Am Abend des 80. Jahrestages der sogenannten „Machtergreifung“ kamen rund 100 Menschen in der Evangelischen Kirche Bischofsheim zusammen, um der Verfolgung, Deportation und Ermordung von Juden zwischen 1933 und 1945 zu gedenken. Eingeladen hatten Gemeindevertretung und Heimatverein zur Konzertlesung „In Auschwitz gab es keine Vögel“ des Kontrabassisten Gregor Praml und der Buchautorin Monika Held. Initiator dieser zutiefst beeindruckenden künstlerischen Auseinandersetzung war Professor Dr. Wolfgang Schneider, der zuletzt auch als Erster Beigeordneter einen Arbeitskreis Stolpersteine angeregt hat.
Warum braucht es noch immer ein Gedenken an den Holocaust, lieber Wolfgang, was können Veranstaltungen zur Reichspogromnacht oder zur Befreiung von Konzentrationslagern bewirken?
Geschichte darf sich nicht wiederholen, Geschichten, auch die grausamen, müssen erzählt werden. Bald wird es keine Überlebenden des von Deutschen organisierten Massenmordes mehr geben. Es ist deshalb die Aufgabe aller folgenden Generation, das kollektive Gedächtnis mit dem zu konfrontieren, was wir nicht vergessen sollten. Es gilt die Erinnerung zu pflegen und Lehren für unser Leben zu ziehen. Denn Nationalismus, Rassismus und nach wie vor Antisemitismus sind in der Gesellschaft vorhanden.
Mit einem Antrag im Gemeindevorstand hast Du einen „Arbeitskreis Stolpersteine“ gegründet und mit diesem soll jetzt auch eine „Geschichtswerkstatt Bischofsheim“ etabliert werden. Was gilt es zu tun?
Es geht um die Konzeptionierung einer Gedenkkultur für die Opfer des Nationalsozialismus und die Realisierung der Verlegung sogenannter Stolpersteine. Das war schon einmal in Bischofsheim geplant, wurde aber nie umgesetzt. Rüsselsheim hat mittlerweile mehr als 50 der etwa zehn Kubikzentimeter großen Pflastersteine platziert, deren goldene Messingplatte mit Namen, Daten und Lebensumständen auf die Opfer des Nazi-Terrors aufmerksam machen. Wichtig ist dabei, und so will es auch der Kölner Künstler Gunter Demnig, der das Projekt europaweit ins Leben gerufen hat, dass die Zivilgesellschaft eingebunden ist. Es geht um Recherche und Dokumentation, um Publikation und Präsentation. In Rüsselsheim waren es vor zwei Wochen beispielsweise Schüler, die das Leiden von Bernhard Nachmann vor dessen ehemaligen Wohnhaus seiner Familie erzählt haben.
Wie weit sind denn die Forschungen gediehen und welche Aktivitäten sind in Planung?
Schon vor mehr als drei Jahrzehnten gab es ein Projekt der damaligen Volkshochschule Mainspitze zur „Spurensicherung“. Die Ergebnisse hat Christine Hartwig in dem Buch „Die Mainspitze unterm Hakenkreuz“ für die beiden Gemeinden herausgegeben. Bernd Schiffler hat schon als Heimat- und Kulturpfleger das Leben der Bischofsheimer jüdischen Familien dokumentiert und Dr. Wolfgang Fritzsche aus Gustavsburg berät uns mit seiner Expertise über die jüdischen Gemeinden im Kreis Groß-Gerau. Wir sind derzeit dabei, Kontakte mit den Nachfahren der Familien Berthold und Selma Kahn, Siegmund und Amalie Selig sowie Hartwig und Therese Kahn herzustellen. Und wir laden weitere Bürgerinnen und Bürger zu einer „Geschichtswerkstatt Bischofsheim“ ein, um mitzumachen, als Paten, Multiplikatoren und Hobby-Historiker. Die auch dazu beitragen können, den Kreis derer, an die erinnert werden soll, zu erweitern: Zwangsarbeiter, Euthanasieopfer und politisch Verfolgte. Ein Austausch mit dem Stadtschreiber aus der Nachbarschaft, Hans-Benno Hauf, der bereits in diesem Frühjahr in Ginsheim die Verlegung von Stolpersteinen plant, steht ebenso auf der Agenda.
Vielen Dank und viel Erfolg.
Das Gespräch führte Axel S.
Der Heimat- und Geschichtsverein Bischofsheim lädt zur Gründung einer „Geschichtswerkstatt“ am 9. Februar 2023 um 18 Uhr in das Museum in der Darmstädter Straße 2 ein. Interessierte sind herzlich willkommen!
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