Ludwig Börne soll zu seinem Dichterfreund Heinrich Heine gesagt haben, als sie 1827 vor der Judengasse in Frankfurt am Main standen: „Die Menschen sind tot, die hier gelebt und geweint haben, aber wo die toten Menschen schweigen, da sprechen desto lauter die lebendigen Steine.“ Die handtellergroßen Betonsteine mit goldener Messingtafel, die jetzt auch in Bischofsheim vor dem letzten Wohnort jener jüdischen Bürgerinnen und Bürger verlegt wurden, die in der Zeit nationalsozialistischer Gewaltherrschaft verfolgt, zur Flucht getrieben oder ermordet wurden, heißen „Stolpersteine“. Stolpern kann und soll man aber nur im übertragenen Sinn. Im Vorübergehen kann man innehalten, muss den Kopf nach unten beugen, um die Inschrift zu lesen. Im Akt des Verneigens drücken sich Zuwendung und Würdigung aus.
Frankfurt Straße 50
Hartwig Kahn wurde am 6.2.1878 in Bischofsheim geboren. Die Hochzeit mit Therese Kahn, geboren am 2.8.1882 in Worfelden, fand 1920 statt. Das Ehepaar unterhielt ein Geschäft für Textilien und war Opfer des sogenannten „Judenboykotts“ 1933 und des Novemberpogroms 1938 mit der völligen Zerstörung der Ladeneinrichtung. Am 20.3.1942 musste Hartwig Kahn sich am Marienplatz zur Deportation in das polnische Ghetto Piaski einfinden. Wann und wie er zu Tode kam, ist nicht nachweisbar. Therese Kahn „verstarb“ am 24.12.1942 an Diabetes, da sie als Jüdin von keinem Arzt behandelt werden durfte. Die beiden Kinder Dr. Friedrich und Bina Kahn konnten über die Sowjetunion und Japan nach San Francisco in die USA fliehen.
Frankfurter Straße 9
Siegmund Selig wurde am 10.2.1871 in Bischofsheim geboren, seine Ehefrau Amalie, eine geborene Lehmann, kam am 5.7.1883 in Weiterstadt zur Welt. Sie heirateten 1906 und betrieben einen Handel mit Landesprodukten. Ihre Tochter Alice Johanna floh ebenso wie ihre Schwester Erna Frieda nach Kapstadt in Südafrika, wo sie drei Jahre später auch ihre geflüchteten Eltern wiedersahen, die noch die Boykottmaßnahmen und die Enteignung ihres Hauses erleiden mussten. Siegmund Seligs Schwester Franziska wurde gezwungen, in ein „Judenhaus“ nach Mainz zu ziehen, 1943 in das Konzentrationslage Theresienstadt deportiert und ein Jahr später in Auschwitz ermordet.
Darmstädter Straße 10
Berthold Kahn wurde am 7.1.1888 in Bischofsheim als viertes Kind des Metzgers Heimann Kahn und seiner Ehefrau Rosa geboren. 1920 heiratete er Selma Lehmann aus Schaafheim, die Tochter eines Viehhändlers. Sie übernahmen das Geschäft, vor dem sich schon 1933 SA-Männer in Uniform postierten, um Kunden vom Kauf abzuhalten. 1935 wurde im „Mainzer Anzeiger“ eine „Prangertafel“ mit den Namen der Bischofsheimer Bauern veröffentlicht, die weiterhin die Viehwaage der Metzgerei Kahn nutzten. 1938 floh das Ehepaar mit den drei Töchtern Hilde, Ilse und Rose zunächst nach Luxemburg und dann nach Südfrankreich, nachdem Berthold Kahn in der Reichspogromnacht verhaftet und für kurze Zeit im Konzentrationslager Buchenwald interniert wurde.
Die Verlegung von Stolpersteinen ist ein öffentlicher Vorgang, ein Eingreifen in die Öffentlichkeit, getragen auch durch Patenschaften der Zivilgesellschaft, demokratisch legitimiert durch die kommunale Politik. Jüdinnen und Juden ist in Deutschland Schreckliches widerfahren; da ist es mit der Schuldzuweisung an frühere Generationen nicht getan. Für die heutige Generation gibt es die Geste des Gedenkens. Und diese wurde nun einzementiert an den Straßen von Bischofsheim, als Mahnung und Auftrag an die zukünftigen Generationen.
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