„Ei, sinn die Leit noch klor?“

Zu Besuch bei Professor Günter Becker

Von Professor Dr. Wolfgang Schneider

Vor wenigen Wochen wurde er 95 Jahre alt. Er ist einer der letzten seines Jahrgangs in Bischofsheim. Seit 2009 wohnt er in einer Seniorenresidenz in München, weil Tochter, Schwiegersohn und drei Enkel in der bayerischen Metropole ihr Zuhause gefunden haben: Günter Becker. 

 

In diesem Sommer durfte ich ihn - auf Vermittlung seiner Klassenkameradin Else Jost, meiner Nachbarin - besuchen. Im karierten Hemd unter dem Pullunder, mit ergrautem Haarkranz, aber immer noch den Schalk im Nacken, öffnet er die Tür und führt mich durch sein Apartment direkt auf den Balkon. Ein beeindruckendes Alpenpanorama erschließt sich hier im 9. Stock. Dass er geistig fit geblieben ist, belegt auch eine selbstgebastelte Klappkarte, auf der akribisch die Berggipfel aufgelistet sind. Doch dem Weitblick folgt sogleich der Rückblick.

 

Bischofsheim sei nicht mehr wiederzuerkennen, das würden ihm die verbliebenen Freunde immer wieder mal mitteilen. Und er fängt an, sich zu erinnern. Vor allem an die gepflegte Geselligkeit. Freitags um 5 Uhr nachmittags beim „Schade Wilhelm“, Stammtisch mit dem Wille Schorsch, dem Schlosser Jakob oder dem Horschte-Käs, das war die gute alte Zeit. Oder beim Jahrgang, wo Günter Becker, wie er stolz verkündet, Vorsitzender auf Lebenszeit sei. „Wir waren mal 98 in der Volksschule.“ Zwei von ihnen durften weiterführende Schulen besuchen, aus dem einem wurde Zahnarzt Dr. Claus und aus ihm Professor Becker, mit Diplom als Bauingenieur und Lehrtätigkeit an der Fachhochschule Darmstadt.

 

Man gab ihm den Spitznamen „die Amsel“

Schnell ist auch sein Spitzname geklärt, den er von seinem Vater Hans geerbt hat. Man nannte ihn „die Amsel“, wegen des schwarzen vollen Haares. Und auch sonst hatten die beiden viel gemeinsam. Becker Senior war 1930 „Ortsbaumeister“ und nach der Eingemeindung zu Mainz für den Straßen- und Tiefbau in Bischofsheim zuständig. Noch nach dem Krieg engagierte er sich ehrenamtlich beim Kanalbau. Auch bei der Ausübung der väterlichen Freizeitbeschäftigung war der Sohn dabei, als Treiber „für 50 Pfennig“ auf der Hasenjagd im Feld oder im Wald auf den Spuren von Rot- und Schwarzwild. In die Fußstapfen als Jagdpächter zu treten, dafür war der Sohn aber nicht zu haben.

Dafür begeisterte er sich für das Feiern und begeisterte mit Büttenreden bei Fastnachtveranstaltungen im Kröcker oder bei der Durchführung von Ausflügen mit dem „Bus vom Schrimpf“. Legendär wurden rund ein Dutzend seiner Texte für die „Närrische Achse“, die er zu bekannten Liedern schrieb und die von Hennes Riedl im Stil des Mainzer singenden Dachdeckermeisters Ernst Neger vorgetragen wurden. Das „Massa-Lied“ bezog sich auf den neuen Einkaufsmarkt bei Bauschheim (heute Globus) und reimte sich im Refrain: „Massa, Massa, Massa! So singe mir im Chor, de Parkplatz is gestopptevoll, ei, die Leit die sinn net klor!“ In den 1980er Jahren war es eine Geschichte, die für Furore sorgte: „Vom Hennes seiner Oma“, „vun de Leit schun totgesagt, in Wirklichkeit noch do war“.

 

Günter Becker war ein Vereinsmensch, er ist wohl mittlerweile das älteste noch lebende Mitglied des Turnvereins, rollte vier Jahrzehnte lang die Kugel beim Kegelclub „Radau“ und ist bis zum heutigen Tage dem Heimat- und Geschichtsverein treu. Viele Artefakte aus dem Bischofsheimer Leben hat er gestiftet, beispielsweise die erste Speisekarte nach der Währungsreform zur Kerb 1948 im Gasthaus Schad in der Bahnhofstraße, Dokumente zu den Sälen, in denen die großen Feste gefeiert wurden sowie Fotos von den „Maskenbällen“ der Männergesangvereine Liederkranz und Germania, wo er sich und seine spätere Ehefrau gefunden haben.

 

Er ist der Chronist von Bischemer Geschichte(n)

Zur Heimatforschung hat er große und kleine Beiträge geschrieben, über die „Moa-Kuh“, eine Episode der Main-Schifffahrt und dort „mit dumpfer Hupe“ verkehrenden Kettenschleppern, über die „Bischemer Flößjer“, entlang der früher noch nicht befestigten Dorfstraßen, oder über Jugend-Banden, die sich als „Bischemer Buwe Gadde“ formierten. Es gab die Garde vom „Freien Platz“ (heute Marienplatz an der Hochheimer Straße), die „Baracke-Gard“ in „Brasilien“ an der Rheinstraße und die „Klinker-Gard“, die Einzige, die von einem Mädchen, Johanna Will, angeführt wurde. Auch die Geschichte „Der gestohlene Komitee-Wein“ erschien im Lokal-Anzeiger, eine „Räuberpistole“, die bis heute nicht aufgeklärt ist. Verschmitzt sagt Günter Becker: „Ich weiß, wer’s war, awwer ich gebb es net Preis.“

 

Und dann zeigt er mir seine gesammelten Erinnerungen in drei Aktenordnern. Ein privates Fotoalbum von Familienfeiern, mit Programmen der Jahrgangstreffen und anderer lokaler Ereignisse. Anekdotisch wie ein Tagebuch liest sich ein Konvolut mit Papieren, auf denen auch viele Geschichten zur Jagdausübung seines Vaters inklusive der feuchtfröhlichen „Schüsseltreiben“ dokumentiert sind. Akribisch nachvollzogen hat Günter Becker seine Zeit als Jugendlicher unterm Hakenkreuz in einem dritten Band reichlich Bildmaterial. 1938, mit zehn Jahren, kam er zum „Jung-Volk“, die nationalsozialistische Organisation für Jungen zwischen 10 und 14 Jahren der sogenannten „Hitler-Jugend“, eine Art Pfadfinderleben, was aber auch ideologische und militärische Ausbildung bedeutete. „Mein erster Fähnlein-Führer war der spätere Bürgermeister Otto Sutter“, erzählt er, als wär’s gestern gewesen.

 

„Wir sind und bleiben Eisenbahnergemeinde!“

Noch einmal kommt es zu einer Hommage auf seine Heimat: „Ihr müsst darauf achten, dass der Charakter des Ortes nicht noch mehr verloren geht!“ Früher wären die Mädchen aus den Bauernhäusern gerne mit Beamten der Bahn verheiratet worden und er zitiert mit Augenzwinkern eine lokale Volksweisheit: „Was war’s fer aaner, enn gut gestellte Eisebahner.“ Wenn sich auch glücklicherweise viele verändert habe, die Bischofsheimer Geschichte als Eisenbahnergemeinde solle weiterhin gepflegt werden. Das hat er auch schon einmal im Jahre 2000 in der Evangelischen Kirche vor großem Publikum bekundet. Damals war er mit anderen vom Heimatmuseum eingeladen worden, um von früher zu erzählen. Die Überschrift in der Mainzer Allgemeinen lautete: „Währungsreform frisst Kasse der Kerweborsch“ und Günter Becker berichtete von seiner „Kerwegesellschaft 27/28 rot/weiß“ und wie diese aus Klopapier die Dekoration kreierte.

 

Wir haben uns noch lange Zeit über andere Bischemer Originale ausgetauscht, vom Bäcker Bernhard war da die Rede, vom Köller Lui, vom Baumeister Ritzert, vom Kaffee-Lahm, vom „Dahser“, „Eckspitz“ und vom „Balser“. Professor Günter Becker, genannt „Amsel“, hat noch ein gutes Gedächtnis und es ist ein Vergnügen ihm zuzuhören. Ich wünsche ihm zum Abschied alles Gute, beste Gesundheit und gratuliere noch einmal nachträglich zum Geburtstag. 



14.09.2023