Die Lyra, ein altgriechisches Zupfinstrument mit fünf Saiten, umgreift Ann Kristin Handel symbolkräftig. Ein antikes Saiteninstrument, das die Gründungsväter des 1898 aus der Taufe gehobenen Gesangverein Einigkeit als auf den Fahnen verziertes Emblem auserkoren hatten. Die neue Vereinsvorsitzende, die zuvor schon als Beisitzer im Gremium fungierte, weiß durchaus die Traditionsverbundenheit des Gustavsburger Gesangvereins zu schätzen, verweist im Gespräch mit dieser Zeitung indes auf eine dringend notwendige Zeitenwende hin – dies vor dem Hintergrund einer altersbedingten Struktur des Gesangvereins. Eine Entwicklung, die bereits der bisherige Vorsitzende Edgar Kownatzki befürchtete und sich stets um die Gewinnung des Sänger-Nachwuchses bemühte. Ursprünglich waren im Gesangsverein nur Männer vertreten, später gab es einen Frauenchor. In den vergangenen Jahren kam es zur Etablierung des gemischten Chors.
Derzeit signalisieren 20 Frauen und Männer ihre Freude am gemeinsamen Singen – genauer gesagt: 17 Sängerinnen und drei Vertreter des männlichen Geschlechts. Vermisst werden die tiefen Bass-Stimmen, Verstärkung könnte auch der Tenor erfahren. „Ein Altersdurchschnitt von 60 plus“, konstatiert die sympathische Frau, die in der saarländischen Gemeinde Kirkel aufgewachsen ist und seit neun Jahren in Gustavsburg wohnt, und sich nun anschickt, für zumindest zeitliche Veränderungen zu sorgen. Früher begann die Singstunde jeweils montags am späten Nachmittag, die richtige Zeit noch, um den Tag dann zuhause ausklingen zu lassen. Für die neue Vorsitzende ein No-Go. „Wenn wir gesangesfreudige Menschen gewinnen wollen, müssen wir auch die Berufstätigen im Fokus haben. Da bieten sich die jetzt festgelegten Probezeiten von 19.30 bis 21 Uhr im Bürgerhaus an", hebt sie hervor. Ann Kristin selbst steckt in einem enggeschnürten Zeitkorsett. Die diplomierte Theologin ist derzeit im Mutterschutz und kümmert sich vorrangig um ihren zweijährigen Sohn Emil, den sie kurz vor unserem Gespräch noch in die Kita-Krippe gebracht hat. Ihr Ehemann Carsten sorgt als Physiker für den Lebensunterhalt. So nebenbei bemerkt die 33-jährige, dass ihre bessere Hälfte „vollkommen unmusikalisch ist“, während sie gerne Trompete spielt und im Notfall die Bischofsheimer Chorleiterin Miriam Vayda als Vize vertreten muss. Der Gesangverein verheißt mit seinem Label Einigkeit, im familiären Bereich bedarf es dagegen mancher Anstrengungen. Ann Kristin Handel ist sich ihrer neuen Aufgabe als Vorsitzende voll bewusst, möchte aber nicht das „Ruder radikal herumreißen.“
Die Gustavsburger Bevölkerung hat sie längst ins Herz geschlossen, weiß mittlerweile wie Mann und Frau tickt. Sonst hätte sie sich dieser Herausforderung auch nicht gestellt. Das weiß auch Sängersprecherin Ursula Kownitzki an ihr zu schätzen. Dass die Fußspuren ihres Vorgängers groß sind, weiß Ann Kristin, traut sich aber den Umschwung zu.
In Gustavsburg ist manches anders als in Kirkel, aber nicht alles. Auch in ihrer Heimat gibt es Vereine, die Umbrüchen unterzogen wurden. Das spürte seinerzeit auch Sebastian Laverny, der von Trechtlingshausen nach Gustavsburg wöchentlich anreiste, um mit viel Herzblut und neuen Ideen den Chor in Gustavsburg zu leiten. Hauptberuflich ist er als Chordirektor in Mainz tätig, die Verbindung nach Gustavsburg ließ er aber nicht abreien. Ann Kristin Handel möchte vorrangig bei den Gustavsburgern die „Lust am Singen“ herausfiltern, beiläufig aber ebenfalls den Gemeinschaftsgeist und die Geselligkeit neu beleben. In der Pipeline stehen Workshops und die Etablierung eines Projektchors. Da böte sich die Möglichkeit, auch junge Menschen zu gewinnen, die sich für moderne Gesangskultur zu begeistern wissen und „nach Noten singen können." Ann Kristin macht indes deutlich, dass sie dies nicht von den Sängern und Sängerinnen fordere, die im traditionellen Liedgut verankert sind und sich lieber an einen mehrstimmigen Kanon heranwagen.
Norbert Fluhr
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