Schon ihre Mutter wurde 100 Jahre alt, berichtet mir stolz die Jubilarin, der das gleiche Glück eines langen Lebens hold ist. „Das war damals noch einmalig in Bischofsheim“, sagt Lina Götz und verweist auf einen Zeitungsartikel im Lokal-Anzeiger von 1993. Ihre Mutter, Christina Reinheimer, stammt aus dem Haus Ecke Schulstraße/Bahnhofstraße. (…) Der Vater arbeitete als Schlosser im Bahnbetriebswerk. Viele Familien wie auch die von Großvater Götz, dem Lokführer, kamen Mitte des 19. Jahrhunderts Dank des Baus der Ludwigsbahn (von Darmstadt nach Wiesbaden) nach Bischofsheim. Für die kleine Familie mit den beiden Töchtern wurde ein Wohnhaus in der Schillerstraße gebaut; „denn von da hatte der Vater es nicht weit zur Arbeit“.
Dort sitzen wir in der guten Stube, mit Sofa, Tisch und Häkeldecke, auf dem Buffett eine Kristallvase. Das modernste Accessoire ist der Bischofsheimer Kalender von 2023 an der Wand. Arrangiert haben das Gespräch Astrid und Mechthild Rühl, Verwandte väterlicherseits. Lina Götz ist eine bewundernswert starke Persönlichkeit und sie kann über ein ganzes Jahrhundert Geschichten erzählen. Da war zunächst ihre Geburt, erfolgreich dank Hebamme Hauf, die vom Salär noch am gleichen Tag Strümpfe für ihre Tochter gekauft habe, „weil die Inflation in die Millionen ging“. (…)
Vom Jungmädel zur Flugabwehr
Als „Jungmädel“ war Lina Götz mit Gleichaltrigen im Dienst der neuen Zeit. Die „Heimabende“ fanden in der Spelzengass-Schule statt. „Es wurde viel gesungen und für die Winterhilfe haben wir Spielzeug gebastelt.“ Im dunkelblauen Rock mit weißer Popelin-Bluse standen sie stramm bei allerlei Aufmärschen unter wehenden Hakenkreuzfahnen. (…) Auf der Bescheinigung zur Entnazifizierung wurde sie als „Mitläuferin“ bezeichnet und sie selbst resümiert selbstkritisch: „Ich war erst spät wach geworden!“
Seit 95 Jahre Mitglied im Turnverein
Ein tragisches Ereignis in der Nachkriegszeit prägte ihr weiteres Leben: der Unfalltod ihres Vaters. Von da an lebte sie alleine mit ihrer Mutter zusammen. Viele Jahrzehnte war Lina Götz als Bürokraft bei einem Bauunternehmen in Gustavsburg beruflich tätig. Sie blieb sportlich aktiv und ist mittlerweile seit fast 95 Jahren Mitglied des Turnvereins „und bin bis heute nicht ausgetreten, aber seit geraumer Zeit beitragsfrei“, bekundet sie verschmitzt. (…)
Und auch einem weiteren lokalen Akteur hält Lina Götz die Treue, dem Heimat- und Geschichtsverein. (…) Aus einem anderen Verein hat Lina Götz auch noch eine Geschichte im Gedächtnis. Lange Jahre rekrutierte die Germania ihre Sänger durch eine Wahl. In einer Mütze konnte jedes Mitglied entweder mit einer weißen oder einer braunen Bohne abstimmen. Der Mann ihrer ältesten Freundin, der „Horschte Sanne“, bekannt wegen ihres Gemüseladens in der Schulstraße, wurde nicht aufgenommen. „Und im Ort ging die Kunde: die haben den Fischer Philipp ausgebohnt!“ Ein langes Leben mit viel Erlebtem darf heute gefeiert werden. (…) Lina Götz („Ein Wunder wie ich das alles überlebt habe!“) ist eine rüstige Rentnerin, der ich alles Gute zum 100. Geburtstag wünsche.
Professor Dr. Wolfgang Schneider
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