„Nein! Mich zwingt Ihr nicht!“

Passiver Widerstand Bischofsheimer Eisenbahner im Jahre 1923

Eisenbahnerstreik 1923. Passiver Widerstand am Rundlokschuppen in Bischofsheim

Im Museum Bischofsheim ist die Kopie eines Plakates ausgestellt, auf dem ein trotzig daher schauender Arbeiter mit den Händen in den Hosentaschen zwei Soldaten gegenübersteht. Dahinter steckt nicht nur deutsche Historie, sondern insbesondere auch eine Bischofsheimer Geschichte. Es war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, den das Deutsche Reich begonnen und verloren hatte. Um ihren Reparationsforderungen Nachdruck zu verleihen, marschierte französisches und belgisches Militär am 11. Januar 1923 ein. 

 

Dampfloks in der Drehscheibe versenkt

Die Reichsregierung in Berlin propagierte einen „passiven Widerstand“ und auch Bischofsheimer folgten diesem Aufruf. „Am 30. Januar mittags um 2 Uhr kam der Befehl, die Arbeit niederzulegen, auf dem hiesigen Telegrafenbüro an, und ein jeder wußte, was er zu tun hatte.“ So ist es in einer Sonderausgabe der Mainz-Bischofsheimer Zeitung „von einem ehem. Eisenbahner“ zu lesen. Alle Dampfloks wurden in den Lokschuppen gefahren und in der davor gelegenen Drehscheibe zwei Lokomotiven versenkt. 

 

Sabotage und Boykott wurden vor nunmehr 100 Jahren von einem Aktionsausschuss organisiert, „der abends in einem Hause in der Friedrichstraße tagte“. Und hier kommt mein Großvater mütterlicherseits ins Spiel: Martin Fachinger, der mit Frau und Kindern in der besagten Straße in Haus Nummer 15 wohnte und als Zugführer bei der Deutschen Reichsbahn arbeitete. Er war einer der „Widerständler“, die auch dafür sorgten, dass die Bahner die schwere Zeit finanziell überleben konnten. 

 

Ausweisung von 108 Familien 

Am 30. März 1923 verordnete der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen auf Aushängen: „Alle diejenigen, welche diesem Befehle nicht Folge leisten, können durch die Rheinlandkommission aus den besetzten Gebieten ausgewiesen werden.“ Und so kam es dann auch: Martin Fachinger gehörte zu den ersten, die sich Anfang Mai am Rathaus (dem heutigen Museum) einfinden mussten. Insgesamt waren es 108 Familien, die davon betroffen waren. 

 

Die Erinnerung an den „Passiven Widerstand“ ist also eher eine ambivalente Angelegenheit. Schuld und Sühne sind die eine Seite der Geschichte, der Wunsch nach Freiheit und Wohlstand eine andere. So erklärt sich sicherlich auch ein Dokument aus offensichtlich besseren Zeiten: 11 Männer im Anzug mit Schlips und Schnorres und der Bildunterschrift: „Zur Erinnerung an unsere Ausweisung am 5. Mai 1923“. Mein Großvater steht hinten links, leicht lächelnd und mit stolzer Haltung. Sie haben gelitten, aber gekämpft, und sie haben sich nicht zwingen lassen zu etwas, was sie nicht wollten.

Professor Dr. Wolfgang Schneider


Einladung!

Vor 100 Jahren: Widerstand bei der Bahn | Vernissage am Sonntag, 5. November 2023, 15 Uhr. 

 

Eine Ausstellung des Heimat- und Geschichtsvereins im Museum Bischofsheim. Detlef Dittmann und Bernd Schiffler präsentieren eine neue Vitrine in der Abteilung Eisenbahnlandschaft. Eintritt frei!

 



Ausgewiesene Widerständler posieren nach Ende der Ausweisung im Fotostudio,

hinten links Martin Fachinger aus der Friedrichstraße 15, der Großvater unseres Autors


26.10.2023