Danke Mr. IGS! – Dieter Nerger mit 81 gestorben

Lehrer Dieter Nerger fragte bei seinen Schüler nie Lösungen ab. Er begleitete sie auf dem Weg, Antworten für anfallende Aufgaben zu finden. Dabei ging er nicht nur weit über seine Fächer Physik und Mathe hinaus, sondern erschuf in der Ginsheimer Gesamtschule ein Ökosystem für die Entwicklung von Lebensperspektiven junger Menschen, womit er andere Schulen inspirierte.

Vor wenigen Tagen starb Dieter Nerger, der die IGS-Mainspitze und das dortige Lehrerkollegium in den ersten 30 Jahren mit seiner DNA ausstattete.

 

Dieter erblickte am 29.11.1940 in Lampersdorf (Schlesien) das Licht der Welt. Durch Krieg und Vertreibung gelangte er mit seiner Mutter, seinen Großeltern mütterlicherseits und zwei Onkel ins Sauerland. Sein kleiner Bruder starb in dieser Zeit im Alter von sechs Monaten. Zusammengeführt wurde die Familie in Darmstadt, wo Dieters Vater inzwischen in einem Lazarett ankam. 1949 bekamen seine Eltern einen weiteren Sohn.

 

Elektroingenieur oder Lehrer?

Obwohl der Beruf des Lehrers in der damaligen Zeit weniger angesehen war, entschied sich Dieter Nerger für ein Lehramtsstudium. Kurz vor seinem Abitur soll er „ich werde Elektroingenieur oder Volksschullehrer“ gesagt haben. Daran, dass seine handwerklichen Fertigkeiten in seinem Lehrerberuf eine wichtige Rolle spielen würden, dachte er vermutlich nicht.

 

IGS-Mainspitze 

Rosenmontag 1973 übernahm Dieter Nerger als erster Schulleiter die Integrierte Gesamtschule. Er unterrichtete vorher an der Mittelpunktschule in Goddelau und sehnte sich danach, Hauptschüler, die beispielsweise in Mathe sehr talentiert waren, in gezielt diesem Fach auf einem höheren Niveau zu fördern. Bis heute gehört das Kurssystem, bei dem Schüler einer Klasse in ausgewählten Fächern Kurse für unterschiedliche Leistungslevel besuchen, zum Konzept der IGS. Neben regulärem Unterricht ermutigte Dieter Nerger seine Schüler auch zu handwerklichen Dingen, zu denen ihn seine Beobachtungen inspirierten. Er fragte sich stets: Was brauchen die Schüler und die Schule? Und wenn es das, was gebraucht wurde, nicht gab, schuf er es gemeinsam mit Schülern und Lehrern in Projekten einfach selbst. Ideen von Kollegen begegnete er mit Neugier und öffnete dafür notwendige Türen, so dass sich aus den Aktivitäten neben des Unterrichts zahlreiche schulinterne Arbeitsgemeinschaften (kurz: AGs) entwickelten. Diese AGs waren es, die dem Schulgebäude die Atmosphäre einer kleinen Stadt verliehen. Es gab eine schulinterne Bank, eine Schülerzeitung, eine Theatergruppe, die Traumwerkstatt, eine Cafeteria, ein Stehcafé, einen Chor, eine Video-AG, ein Team für Veranstaltungstechnik und vieles mehr. „Durch die Aktivitäten neben dem Unterricht bekam ich wieder Lust auf Schule“, hörte Dieter Nerger diesen Sommer oft von ehemaligen Schülern, als er beim 50-jährigen Jubiläum seine alte Heimat besuchte. 

Auch Bedürfnisse des Lehrerkollegiums nahm er ernst. So entstand im Schulgebäude u.a. die „Krabbelstube“, in der Lehrerinnen ihren Nachwuchs beherbergt wussten, während sie ihrem Beruf nachgingen. Es gab sogar eine Schülerin, die von dieser Einrichtung profitierte. Sie wurde in jungen Jahren schwanger und man verwies sie ihrer Schule. Dieter Nerger bot ihr in der IGS-Mainspitze eine Perspektive und ermutigte sie, ihr Kind in die Krabbelstube zu bringen, um gleichzeitig Schülerin und Mutter zu sein. Im Rückblick sagt sie: „Dieter Nerger rettete mein Leben“. 

Bis heute steht die IGS-Mainspitze dafür, neben Unterrichtsfächern, wie Deutsch, Mathe und Englisch auch ein Urvertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu lehren. Auch ich besuchte die IGS-Mainspitze und erinnere mich gut an die Botschaft Dieter Nergers: „Es gibt immer einen Weg“, sagte er, „und wenn du etwas brauchst, das es nicht gibt, schaffe es einfach selbst“. 

 

In zahlreichen Nachrichten bekunden ehemalige Schülerinnen und Schüler ihre Anteilnahme und betonen seine Verdienste für uns in der IGS. Auch ehemalige Lehrerkolleginnen melden sich zu Wort. „Herr Nerger gehörte zu meinen Lieblingsmenschen“, sagte Karin Flohr-Wondra. „Er setzte sich überzeugend für die ambitionierten Ziele einer integrierten Gesamtschule ein“, betont Birgit von Stern. 

 

Nach seinem Ruhestand 2002 entdeckte er das Bootsfahren für sich. Er kaufte ein gebrauchtes Boot und entwickelte es, wie die IGS-Mainspitze. Er führte Buch darüber, was gut war und was geändert werden müsse – und hakte das Erledigte ab. 

Dieter Nerger hinterlässt zwei Töchter, einen Sohn, vier Enkelkinder und einen Urenkel. Bis zuletzt lebte er mit seiner Lebensgefährtin Heidrun Bechtel in Ginsheim. Am kommenden Dienstag wäre Dieter Nerger 82 Jahre alt geworden.

 

Kurz vor seinem Tod las er „Der Knabe im Brunnen“ von Stefan Andres. Eine Erzählung aus Sicht eines Jungen, der sein Spiegelbild im Brunnenwasser sieht. „Genau so ist es richtig. Wir müssen uns in die Kinder hineinversetzen und ihre Fragen verstehen“, sagte Dieter Nerger voller Überzeugung.

Axel S.


Die Trauerfeier findet am 

Mi, den 30.11. um 13 Uhr auf dem Ginsheimer Friedhof statt.




24.11.2022